ZUR ERSTE 1 2 3 4 5 6 7 8 MEIN GEBET -1- Vorwort |
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Wenig wißt Ihr aus
meiner Kindheit und aus meinen Jugendjahren. Also hört zu: In der Ukraine waren bis zum Krieg viele deutsche Dörfer, wo nur deutsch gesprochen wurde. In solch einem Dorf, Rundewiese, wurde ich am 18. August 1916 geboren. Dort verbrachte ich meine Kindheit und meine Jugendjahre. In unserem Dorf war eine 4-stufige Schule, im Kreiszentrum eine 7-stufige. Auch eine sehr schöne Kirche hatten wir dort. Das interessante ist, in meinem Gedächtnis ist diese Zeit immer noch frisch, als ob das unlängst war. Ich erinnere mich ganz genau an unser Dorf. Ich weiß, wo der Apfelbaum stand, der Birnbaum, und unser Stall in dem die Kühe standen. Besonders an die Pferde erinnere ich mich. Wir hatten zwei Stuten, die Schwarze und den Fuchs. Der Fuchs war ein besonders braves Pferd, auf dem ich öfters geritten bin. Ich war kaum 10 Jahre, mußte ich schon schwer arbeiten. Wir hatten 18 Hektar Land, mehrere Kühe, Schafe, Pferde. Das alles mußte versorgt werden. Ich war der älteste Sohn in der Familie, mußte besonders im Sommer bei der Ernte mitmachen, fast wie die Erwachsenen. Heute kann ich bloß sagen: Gut, daß mich mein Vater von Kindheit an an Arbeit gewöhnt hat. Das hat mir dann in meinem Leben geholfen. Als ich 8 Jahre alt wurde, begann meine Schulausbildung. In unseren Dörfern waren der Lehrer und der Pastor die am meisten verehrten Männer. In meiner Vorstellung war der Lehrer der allerklügste Mann in der Welt. Manchmal spürte ich den Wunsch: wenn ich selber doch mal so ein Kluger werden könnte. Aber immer dachte ich: Ach das schaffe ich nicht. (Konnte ich mir damals vorstellen, daß ich sehr bald Lehrer werden würde und später auch noch Pastor?) Schon mein erster Schultag war für mich ein Besonderer, den ich nicht vergesse. Der Lehrer fragte: "Wer weiß, wann er geboren wurde?" Ich erinnerte mich an meinen letzten Geburtstag. Mein Vater erzählte: "Das war gerade beim Kartoffel ausmachen" (das ist ein schwäbischer Ausdruck, wir waren Schwaben, und bedeutet Kartoffelernte). Er sagte, daß er die Kartoffeln allein ausmachen mußte, weil meine Mutter mich. Keiner der Schüler wußte, wann er ;n wurde. Ich stand auf und sagte: "Ich weiß, wann ich geboren wurde." Der Lehrer fragte: "Na, wann?" Ich antwortete klar und deutlich: "Beim Kartoffel ausmachen." Der Lehrer lachte und ich dachte, warum lacht er denn? Ich hab' ihm doch die Wahrheit gesagt. Das hat doch mein Vater selbst gesagt. Weiterhin war ich bestrebt, mehr genauere Antworten zu geben. Die 4. Klasse in Rundewiese beendete ich mit guten Noten. Dann kamen die 5., 6. und 7. Klasse im Kreiszentrum Kronau (nachher Luxemburg), das war 6 km von Rundewiese. 3 Jahre ging ich die sechs Kilometer meist zu Fuß. Wenn im Herbst oder Winter schlechtes Wetter war, durfte ich auf dem Fuchs zur Schule reiten. Dort stellte ich ihn nebenan im Bauernhof ab und nach dem Unterricht ritt ich wieder auf dem Fuchs nach Hause. Die 7. Klasse beendete ich auch mit guten Noten und noch in demselben Jahr wurde ich Student des deutschen pädagogischen Technikums in Chortiza bei Saporoschje und nach 3 Jahren war ich diplomierter Lehrer. Ich war 18 Jahre alt. Mein Wunschtraum war erfüllt. Als junger Lehrer hatte ich auch Erfolg. Zwei Jahre war ich Lehrer in einem Dorf, wo ich selber vier Klassen führte. Dann wurde ich als diplomierter Lehrer in ein größeres Dorf (Schidlowo) versetzt, schon als Schulleiter. So war ich mit 20 Jahren schon Schulleiter. Das waren die allerglücklichsten Jahre in meinem Leben. Ich war jung und angesehen. In unserem Dorf gab es viele hübsche deutsche Mädchen. Ich war so gut wie verlobt mit Einer, sie hieß Sonja Stein. So ging es bis Oktober 1939. Im Oktober 1939 begann in meinem Leben ein neuer Zeitabschnitt. Ich wurde als Sowjetbürger in die Rote Armee einberufen. Auch als Soldat war ich bestrebt, meine Sache gut zu machen. Ich hatte ständig Briefwechsel mit meinen Eltern, auch mit Sonja. Ich schrieb ihr sogar Gedichte. 1941 sollte ich entlassen werden, aber leider begann am 22. Juni 1941 der Krieg mit Deutschland. Mit dem Beginn des Krieges begann eine sehr schwere Zeit - nicht nur für mich, auch für alle Deutschen in der Sowjetunion. Meine erste Begegnung mit deutschen Soldaten war eine sehr unangenehme, die ich nie im Leben vergesse. Darüber möchte ich Euch etwas mehr erzählen: Damals, als ich in die Armee einberufen wurde, gab es nur Wenige mit Mittel- und Hochschul-Ausbildung. Deshalb kam ich gleich in eine Pionierabteilung. Dort mußte man Mathematik-und Physikkenntnisse haben, weil Berechnungen gemacht wurden, wie z. B. bei Brückenbau, Sprengarbeiten, Minenfelder usw. Die Abteilung in der ich war, stand vor Kriegsbeginn westlich von Kiew. Kurz nach Kriegsbeginn waren wir im Einsatz. Ich erinnere mich an eine Episode aus jener Zeit, über die ich öfter nachdenke. Es war Anfang August 1941. Wir mußten wieder zurück und machten Halt in einem Wald. Die Gruppe, in der ich war, bekam Befehl an den Waldrand vorzudringen und Minen zu legen. Wir waren 30 Soldaten mit Leutnant. Jeder bekam zwei Minen. Um Mittemacht brachen wir auf. Es wurde ständig geschossen. Im Dunklen sieht man, wie die Kugeln, nachts wird meist mit Leuchtkugeln geschossen, hin und her fliegen. Ich war mir bewußt, daß das eine sehr riskante Aufgabe war. Unterwegs betete ich heimlich: "Herr Gott im Himmel, behüte mich", was ich sonst sehr selten tat. Wir waren schon fast am Ziel, auf einmal spürte ich einen Stich im Arm und dann wie etwas warmes die Hand herunterlief, in der ich die Mine trug. Ich sah, das war Blut! Eine Kugel hatte mich leicht am Oberarm verletzt. Schmerzen spürte ich gar nicht, die Spannung, die Anstrengung war zu groß. Ich meldete das dem Anführer. Er gab Befehl, mir die Minen abzunehmen. Mich schickte er zurück zum Feldlazarett. Ich ging schweren Herzens zurück. Ich dachte: 'Warum hat eben mich die Kugel getroffen? Ich hab' doch zu Gott um Schutz gebetet und bekam das Gegenteil.' So kam ich ins Lazarett. Der Arzt schaute und sagte: "Da hast du Glück gehabt, nur eine Hautverletzung." Er bearbeitete meine Wunde und ich mußte bis morgens im Lazarett bleiben. Am nächsten Tag kam ich in meine Abteilung und merkte, da ist was nicht so. Ich erführ, daß alle 30 umgekommen sind. Sie wurden bemerkt und die Deutschen beschossen sie mit Granaten. Von der Explosion der Granaten explodierten die eigenen Minen. Heute noch denke ich öfter darüber nach. Hat sich Gott damals doch in mein Leben eingemischt, oder war das bloß ein Zufall? Kurz danach wurde unsere Abteilung nach Kiew befohlen um dort, westlich von Kiew am Flüßchen 'Irpen' Verteidigungslinie zu bauen. Wochenlang schufteten wir fast Tag und Nacht, machten Panzergraben, Minenfelder, Befestigungen aus Beton und Stahl. Die deutschen Truppen kamen immer näher, blieben aber vor unserer Linie stehen. Sie beunruhigten uns kaum. Manchmal schickten sie uns ein paar Granaten. Ich dachte schon: 'So, die Deutschen kommen nicht weiter.' In der Zeit aber überquerten die Deutschen den Dnejpr nördlich und südlich von Kiew, und umringten so Kiew. Am 20. September gab es Befehl: Zurückziehen. Wir verließen Kiew, kamen bis Borispol 35 km östlich von Kiew. Weiter ging es nicht. Wir waren eingekesselt. Alle Versuche durchzubrechen scheiterten. 3 Tage lang wurden wir mehrmals täglich von 36 Stuckas (Kampfflugzeuge) bombardiert. Am 25. September war die Sowjetarmeee so gut wie kampfunfähig. Die Offiziere verschwanden, die Soldaten, die noch am Leben waren, gingen hin und her wie verwirrte Schafe. Unter ihnen war auch ich... Am Leben blieb ich damals in dem Bombenregen nicht nur weil ich Glück, sondern auch Erfahrung hatte. Ich hatte mich bei Bombenangriffen nie versteckt, d. h. eine Deckung gesucht. Im Gegenteil! Ich suchte eine Stelle, an der ich etwas manövrieren konnte, auf Seite springen konnte. Die Flugzeuge flogen nicht sehr hoch, sie waren gut zu sehen. Auch die Bomben, die sich vom Flugzeug lösten, waren gut zu sehen. Es war immer gut zu sehen, in welche Richtung die Bomben niedergingen. Einmal sah ich, daß ein Bomber genau auf mich zukam, die Bombe fiel genau auf mich zu. Ich hatte nur kurz Zeit auf Seite zu springen, als dort wo ich anfangs stand, eine Bombe einschlug. Vom Luftdruck wurde ich umgeworfen, meine Mütze verschwand. Die Flugzeuge drehten ab, die Gefahr war vorbei. Ich stand auf, sah ein großes Loch, dort wo ich anfangs stand. Daneben lag ein umgeworfener LKW mit Bekleidung. Ich nahm mir neue Unterwäsche und eine nagelneue Mütze, bei der noch deutlich der rote Kant zu sehen war. An demselben Tag sah ich zum ersten Mal deutsche Soldaten. Es waren drei auf einem Motorrad. Einer im Anhänger, einer am Steuer, der dritte auf dem hinteren Sitz. Mich wunderte, daß sie ihre Maschinenpistolen auf dem Rücken hatten, nicht kampfbereit. Sie hielten Schilder, auf denen in Russisch geschrieben stand: Sammelstelle für Kriegsgefangene auf dem Flughafen. So begannen die russischen Soldaten sich langsam in Richtung Flughafen zu bewegen. Unter denen war auch ich. Ich ging, meine Gedanken irrten hin und her: 'Was würde nun aus mir weiter werden?' Als ich auf einmal einen Offizier sah, der unsere Reihen entlang ging. Er war nicht groß und hatte ein rundes Gesicht (ich würde ihn heute noch erkennen). Er blieb stehen, schaute auf mich und sagte: "Du - komm mal her." Ich hatte ihn ja gut verstanden und trat aus den Reihen heraus. Er rief einen Posten und befahl: "Mach Schluß mit dem, das ist ein Kommissar." Er zeigte auf meine neue Mütze mit rotem Rand. Ich verstand ihn gut und erwiderte: "Nein, ich bin kein Kommissar." Darauf er: "Oh, das ist ja noch ein Jude," und befahl nochmal: "Leg ihn um!" Er ging weiter. Ich blieb mit dem Posten zurück. Hier geschah wieder ein Wunder. In dem Moment erschienen zwei russische Jagdflugzeuge in der Luft. Die Deutschen schrien: "Fliegeralarm." Die Jaks (ein Typ russ. Flugzeug) sind in der Luft. Es gab Befehl: "Hinlegen!" Mein Soldat, der mich umlegen sollte, versteckte sich hinter einem Baum. Ich nutzte das und ging schnell zurück. Die Jaks machten ihre Sache und flogen weg. Es gab Befehl: "Aufstehen - marsch!" Ich stand auf. Der Soldat sah mich nicht und kümmerte sich nicht mehr um mich. Vielleicht war er auch froh, daß ich weg war! Wären damals diese beiden Flugzeuge nicht erschienen, würde ich höchstwahrscheinlich heute diese Zeilen nicht schreiben. Und wieder die Frage: War das damals nur Zufall, oder hat doch Gott mir das Leben bewahrt? So wurde ich Kriegsgefangener. Die Verhältnisse im Lager waren sehr schlimm. Zu meinem Glück dauerte das für mich nicht lange. Ich fürchtete mich, Kontakt mit den Deutschen aufzunehmen, mir stand der mit dem runden Gesicht noch vor Augen. Aber ich hielt mich immer dicht am Zaun auf, um zu hören, was gesprochen wurde. Nach einigen Tagen sah ich einen Offizier kommen, der dem Aufseher sagte: "Suche mir 20 Männer aus, die aus dem Gebiet Poltawa stammen, die nehme ich mit." In Poltawa war ich nie zuvor, wußte aber, daß Poltawa in Richtung meiner Heimat war. Ich meldete mich, sagte ich sei aus Poltawa. So war ich unter den 20. Wir wurden kurz darauf in einen LKW verladen und es ging Richtung Poltawa. Unterwegs machte der Wagen halt, man fragte uns: Tualett? Klo? Dann fragte der Offizier: "Ist jemand, der etwas deutsch versteht?" Ich meldete mich. Der Offizier wunderte sich, als er mich rein deutsch sprechen hörte. Ich erklärte ihm, daß ich ein Deutscher aus der Ukraine sei. Er wollte alles von mir wissen, dann sagte er: "Bleib' eine Weile bei mir, dann kannst du nach Hause fahren." Dieser Mann war genau das Gegenteil von dem, mit dem runden Gesicht. -1- |