Die Lebensgeschichte eines Menschen -
Haag Ivan
Iwan Haag ehemaliger politidcer Gefangene opfer des grossen Terrors der Kolimisher kommunistischer Konzlager


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Meine Schwester Karolina, sie war älter als ich, hab ich nie wieder gesehen. Sie war tot. Meine Mutter erzählte mir, daß Karolina bei der Vertreibung zwei kleine Kinder verlor. Sie wurde wahnsinnig. Manchmal wußte sie selber nicht, was sie machte. Eines Nachts ist sie aufgesprungen und schrie laut: "Jetzt weiß ich, wo meine Maria (ihre älteste Tochter) ist", und ist im Nachthemd weggelaufen. Mutter ging sie suchen, hat sie nicht gerunden. Am nächsten Tag fand man sie ertrunken im Fluß.

Und noch etwas von Mutter und Bruder: Zu essen hatten sie genug. Ihr Häuschen stand nicht weit vom Fluß. Dort gab es viele Fische. Sie wußten gar nicht, wie viele Gänse sie hatten, eine ganze Schar. Tagsüber waren sie beim Wasser, zur Nacht kamen sie in den Hof, dort schliefen sie auf der Erde. Ihre Kuh war wie ein Automat. Sie hatte einen bestimmten Platz im Hof. Dort wurde sie morgens gemolken und ging selbständig weiden. Zu Mittag war sie auf ihrem Platz im Hof, wurde gemolken und war wieder weg bis zum Abend. So ging das jeden Tag. Ein großes Schwein war wie ein zahmes Haustier, auf dem sind die Kinder öfter geritten. Mein Bruder erzählte mir eine Geschichte, die ich Euch auch erzählen will: Voriges Jahr, erzählte er, hatten sie eine Sau, die ging auch selbständig herum. Eines Tages verschwand die Sau. Lenhart suchte sie, hat sie nicht gefunden, dachte sie sei wahrscheinlich im Fluß ertrunken. Nach einer Zeit kam die Sau zurück und hinterher liefen 8 kleine Ferkelchen.

In den nächsten Jahren war ich noch zwei Mal bei ihnen zu Gast. Jetzt war das Lehmhäuschen schon nicht mehr bewohnt. Nebenan stand ein schönes Haus, vome ein schöner Zaum und junge Bäume. In dem Dorf waren viele Deutsche und es wurden solche Häuser gebaut. Auch bei der Arbeit waren die Deutschen immer vome dran. Die Kasachen fingen an neidisch zu werden. Zum Schluß noch: Am 28. Juli 1980 starb meine Mutter Maria Charlotta, geborene Färber im Alter von 84 Jahren. Bei der Beerdigung konnte ich nicht dabei sein. Der Weg war zu weit. Sie ist dort in Uba-Forpost begraben. Auch die Schwester ist dort begraben. Leider ist heute niemand von ihren Nachkommen mehr dort. Der Bruder Ludwig, auch seine Frau sind schon verstorben.   Ihre   Kinder   verstreut   in verschiedenen Orten.

10 Tage waren wir in Uba-Forpost zu Gast bei Mutter und Bruder. Darm ging es wieder mit dem Zag nach Poltawa. Die Reise ging über Moskau. Dort machten wir Halt zum einkaufen. In Poltawa wußten Ninas Verwandte, wann wir ankamen und wir wurden empfangen. Ninas Eltern, Geschwister und alle waren noch am Leben. 8 Jahre war Nina abwesend gewesen und unsere Mädchen waren in dieser Zeit von Kindern zu Erwachsenen geworden.

Als Nina vor 8 Jahren Poltawa verließ, hatte nemand auf sie geachtet. Ihre Mutter schimpfte: "Wo willst Du hin? Was kann der (also ich)   Dir geben? Du gehst dort zugrunde mit Deinen Kindern." Nina machte sich auf einen so langen schweren Weg, aber niemand von ihren Eltern oder Geschwistern gab ihr eine Kopeke Geld, niemand ein Stück Brot mit auf den Weg. Niemand von ihren Angehörigen begleitete sie zum Bahnhof. (Nina erzählte mir manchmal davon und noch viel mehr.)

Jetzt wurden wir auf dem Bahnhof erwartet. Nina kam zurück, eine ganz andere Dame, modern gekleidet, mit Geld in der Tasche. Als wir Magadan verließen, hatten wir 100.000 Rubel auf unserem Konto. Das war damals großes Kapital. Wir kauften uns gleich, fast im Zentrum von Poltawa, die Hälfte eines großen Hauses mit Hof und Garten. Es war ein altes Haus, schon lange nicht renoviert. Das taten wir aber sehr schnell. Auch alles fürs Haus kauften wir gleich. Das alles kostete Geld, und unsere Vorräte gingen zu Ende. Ich begann zu arbeiten. Der Lohn hier war sehr wenig im Vergleich zu dem war wir dort verdient hatten. Unsere beiden Töchter wurden Studentinnen, Lora in der medizinischen  Hochschule,  Irine  an  der pädagogischen Universität. Wir fingen an, Geldnot zu spüren. Nina mußte auch zur Arbeit. Nach 3 Jahren war Irine Mathematik-Lehrerin, Lora Ärztin. Beide ringen an zu arbeiten. Jetzt ging es wieder besser — aber nicht lange: Da wollte die Eine heiraten, dann auch die Andere.

Und wieder wurde dies und das gebraucht. Lora heiratete und ging aus dem Haus. Irine heiratete, blieb bei uns. Auch Anna wurde bei uns geboren und ist bei uns auch aufgewachsen. Von ihrem Vater wu?te sie nichts, weil sich Irine gleich nach ihrer Geburt scheiden lie?. Er ist einfach aus ihrem Leben verschwunden. Ofter mu?te ich ihr den Vater ersetzen, z. B. bei Eltemversammlungen. Als Enkeltochter war sie uns manchmal lieber als die eigene Tochter. Besonders Nina hatte Anna sehr lieb. Als sie schon schwer krank lag, hat sie sogar ofter im bewu?tlosen Zustand nach Anna gerufen. Manchmal wenn ich bei ihr war, wollte sie auch Anna sehen. Sie sah mal die Krankenschwester, ruelt sie fur Anna und rief sie: "Anna, Anna".

Weil wir jetzt schon in Deutschland sind und iuch Eure Mutter und Gro?mutter hier gestorben ist, finde ich es richtig, daruber zu berichten, wie es kam, da? wir ausreisten:

Vieles ist Euch bekannt, habt ihr miterlebt. So wi?t ihr, da? nach der sogenannten Perestroika die Ukraine selbstandig wurde und das Leben immer schwerer wurde. So entstanden auch in unseren Familien aussichtslose Umstande. Irine wurde 1998 Rentnerin. Ihr drohte Entlassung von der Arbeit. Die 60 Grivni (ukrainisches Geld) Rente, die sie bekam, waren viel zu wenig. Sie mu?te fur Miete mehr zahlen. Ihr Freund, der mit ihr lebte, wurde immer unverschamter. Er fing an, sie zu beleidigen, er konnte Anna nicht leiden. In ihrer Familie war die Lage aussichtslos.

Anna beendete die Universitat, fand schon mehr als ein Jahr keine Arbeit. Sie war verheiratet, konnte mit ihrem Mann nicht zusammen leben. Bei ihm gab es keine Moglichkeit, auch bei ihr keine. Beide hatten kein Einkommen, lebten meist getrennt. Er bei seinen Eltern, sie bei ihrer Mutter und dem unertraglichen Freund ihrer Mutter.

Wir, Nina und ich, hatten fast keine materiellen Schwierigkeiten. Beide bekamen wir Rente, hatten unser eigenes Haus, ich bekam noch Lohn in DM als Pastor. Aber ich hatte gesundheitliche Probleme. Meine Augen. Als Pastor mu?te ich viel lesen und schreiben. Jede Predigt mu?te in deutsch und russisch geschrieben werden. Die Arzte verboten mir, die Augen anzustrengen, sie verlangten das rechte, blinde Auge zu entfemen, um das linke zu retten. Ich spurte, da? ich mein Predigtamt aufgeben mu?te, wu?te aber auch, da?,,'wenn ich in Poltawa bliebe, die Gemeinde mich sowieso brauchen wurde. Ich wu?te, ich wurde es nicht aushalten, zu Hause zu sitzen. So kamen mir die Gedanken: nach Deutschland! Irine und Anna sahen in Deutschland auch einen Ausweg aus ihrer schweren Lage. Sie au?erten ihren Wunsch weniger mir, als ihrer Mutter und Gro?mutter gegenuber. Ich selbst hatte kein gro?es Interesse an der Auswanderung. Nicht wegen mir. Poltawa war mir keine Heimat. Meine Heimat, dort wo ich geboren wurde, wo ich meine Kindheit und Jugend verbrachte, wo meine Gro?eltem begraben sind, dort durfte ich nicht hin. Ich sah in Deutschland doch noch eine Moglichkeit, eine Heimat zu finden, dort wo meine Urgro?eltem waren. Ich war besorgt wegen Nina. Sie konnte kein deutsch, ihre Heimat war Poltawa. In Deutschland wurde sie taub und stumm sein, sie konnte sich mit niemanden unterhalten. Ihre Eltern, Geschwister und Freunde, alle waren in Poltawa. Sie aber bestand darauf: nach Deutschland! Ich wu?te, Nina war bereit sich fur Anna und Irine zu opfern. Das machte mir Sorgen. Den Aufnahmebescheid fur mich, Nina, Irine und Anna hatten wir schon lange. Schon vor mehreren Jahren hatten wir nach Deutschland kommen konnen. Zu der Zeit war ich schon mehrere Male als Gast in Deutschland gewesen. Ich wu?te: in, Deutschland wurden wir auch Probleme haben, besonders Irine. Ihr Alter. Ich wu?te, wie schwer es fur sie sein wurde Arbeit zu finden (und so ist es auch).

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